Verbindungen zwischen bildungs- und arbeitsmarktsoziologischen Fragestellungen schaffen

Zu Beginn des Jahres 2018 bekam Sandra Buchholz ihren ersten Ruf auf eine Professur. Ihre neue Professur für „Quantitative Lebensverlaufssoziologie“ an der Universität Hannover ist verbunden mit der Abteilungsleitung „Bildungsverläufe und Beschäftigung“ am DZHW. Zu ihren Forschungsinteressen gehören der internationale Vergleich von Bildungssystemen, Arbeitsmärkten und Wohlfahrtsregimen in modernen Gesellschaften sowie deren Auswirkungen auf soziale Ungleichheitsstrukturen und Lebensverläufe.

WiHo-Redaktion: Was waren für Sie zentrale Meilensteine auf dem Weg hin zu Ihrer Professur?
Sandra Buchholz: Der wahrscheinlich wichtigste Meilenstein ist meine eigene Biographie. Ich komme selbst aus einem eher bildungsfernen Elternhaus, hatte aber das Glück – wie auch meine Geschwister – den Weg aufs Gymnasium und ins Studium zu finden. Schon als Kind und Jugendliche habe ich gemerkt, dass die Startbedingungen von Kindern aus unterschiedlichen Elternhäusern nicht gleich sind. Ich wollte schon früh verstehen, warum das so ist. Mich bewegten auf dem Gymnasium und im Studium Fragen wie: Warum haben viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler eine bessere Ausgangsbasis, um erfolgreich am Gymnasium zu sein (z.B. durch elterliche Unterstützung bei der Bearbeitung von Hausaufgaben oder der Verarbeitung des Schulstoffs)? Was ist der Grund dafür, dass viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen nicht in größerem Umfang arbeiten müssen, um sich das Studium zu finanzieren bzw. „leisten“ zu können? Der Durst, solche Dinge zu verstehen, wurde schon früh in mir geweckt und hat mich seither stetig begleitet. Ich bin sehr dankbar dafür, in einem Beruf arbeiten zu dürfen, der es mir tagtäglich ermöglicht, mich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.

Und natürlich waren die zentralen Meilensteine viele, viele Menschen: Menschen, die mir erlaubt haben, mich auf meinem Weg zur Professur „auszuprobieren“ und die dazu nötigen Erfahrungen Schritt für Schritt zu sammeln; Menschen, die mir bei Fragen mit Rat und Tat zur Seite standen; Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mir Wege und Entwicklungsperspektiven aufgezeigt haben; der stetige Austausch mit anderen Menschen – sei es Kollegen, Doktoranden oder Studierende –, der mir ermöglicht hat, meine Perspektive immer wieder zu erweitern und meine Sichtweise weiterzuentwickeln.

Stark profitiert habe ich in den vergangenen Jahren auch von meiner Mitarbeit im Nationalen Bildungspanel, ein sehr interdisziplinäres Projekt im Bereich der Bildungsforschung. Die Mitarbeit an diesem Projekt hat meine wissenschaftliche Perspektive noch einmal deutlich erweitert. Ich freue mich deshalb, dass diese Interdisziplinarität auch am DZHW gelebt wird.

WiHo-Redaktion: Worin sehen Sie Ihre Forschungsschwerpunkte für die nächsten 5 Jahre? Haben Sie eine Art Leitperspektive, an der Sie sich orientieren?
Sandra Buchholz: Das Kernthema meiner Forschung ist und bleibt natürlich die Sozialstrukturanalyse. Mich interessiert, warum die Lebensverläufe von Menschen in Deutschland und anderswo so aussehen, wie sie aussehen, wie soziale Ungleichheiten entstehen und sich verändern und wie individuelles Handeln, soziale Strukturen und institutionelle Rahmenbedingungen zusammenhängen. Am DZHW darf ich zudem daran mitwirken, Daten zu „sammeln“, die uns erlauben, solche Fragen gut zu beantworten.

Die konkreten Anwendungsfelder meiner Forschung sind die Bereiche Bildung, Arbeitsmarkt und Familie. Aktuell und in den kommenden Jahren bewegt mich vor allem das Thema alternative Bildungswege. Dem deutschen Bildungssystem wird häufig „vorgeworfen“, sehr rigide und geschlossen zu sein. Neuere Forschung zeigt aber, dass das deutsche Bildungssystem sehr viel offener ist als angenommen. Um ein Beispiel aus meiner eigenen Forschung zu nennen: Fast jede dritte Hochschulreife in Deutschland wird über den zweiten Bildungsweg erworben. Dabei handelt es sich um Haupt- und Realschüler, die die Hochschulreife nachholen. Ebenso gibt es alternative Wege ins Studium. Die Bedeutung solche Bildungswege zu erforschen, muss ein wichtiges Ziel der Forschung sein. Bisher wissen wir recht wenig über die Verbreitung solcher nicht-traditionellen Bildungskarrieren und darüber, welche sozialen Gruppen von alternativen Bildungspfaden profitieren.

Darüber hinaus strebe ich in den kommenden Jahren an, Geschlechtereffekte aus einer Lebensverlaufsperspektive systematischer in den Blick zu nehmen, insbesondere für Hochqualifizierte. In der Bildungsforschung stehen seit mehreren Jahren vor allem herkunftsspezifische Ungleichheiten im Mittelpunkt; die Analyse geschlechtsspezifischer Ungleichheiten ist dabei ziemlich „verloren“ gegangen. Heute gelten gemeinhin Mädchen bzw. Frauen als Gewinnerinnen der Bildungsexpansion; inzwischen werden sogar Jungen als „Bildungsverlierer“ bezeichnet. Solche und vergleichbare Aussagen basieren jedoch allein auf Ergebnissen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in den ersten 16 bis 20 Lebensjahren von Menschen und verkennen nachgelagerte geschlechtsspezifische Lebensverlaufsdynamiken. Um geschlechtsspezifische Ungleichheiten angemessen zu beurteilen, bedarf es jedoch einer ganzheitlicheren Betrachtungsweise. Deshalb ist es ein konkretes Ziel meiner künftigen Forschung, die Frage geschlechtsspezifischer Bildungsprozesse mit geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Ausbildungswahl, geschlechtsspezifischen Erwerbsprozessen und geschlechtsspezifischen Bildungsrenditen theoretisch und empirischen zu verknüpfen.

Das geht einher mit meinem Wunsch, die bildungs- und arbeitsmarktsoziologische Forschung stärker miteinander in Verbindung zu setzen. In meiner Wahrnehmung stehen die beiden Forschungsfelder Bildungs- und Arbeitsmarktsoziologie in Deutschland noch vergleichsweise stark „nebeneinander“, auch auf konzeptionellem und analytischem Niveau. Für den substantiellen Erkenntnisgewinn in beiden Forschungsfeldern ist in den kommenden Jahren meines Erachtens eine stärkere Integration beider Themengebiete unumgänglich. Letztlich ist es erst durch eine Integration von bildungs- und arbeitsmarktsoziologischen Fragestellungen möglich, die längerfristigen individuellen und gesellschaftlichen Folgen unterschiedlicher Bildungschancen angemessen zu verstehen und zu beurteilen. Meine Arbeit am DZHW gibt mir dazu beste Voraussetzungen, da auch in der von mir geleiteten Abteilung Bildung und Beschäftigung „zusammen gedacht“ werden.

WiHo-Redaktion: Was ist derzeit Ihr zentrales Forschungsprojekt und welchen gesellschaftlichen Bezug hat es?
Sandra Buchholz: Aktuell beschäftige ich mich vor allem mit der Untersuchung alternativer Bildungswege und der Berufsrückkehr von Frauen nach einer familienbedingten Erwerbsunterbrechung. Beide Themen haben meines Erachtens einen klaren gesellschaftlichen Bezug.

Bei meiner Forschung zu alternativen Bildungswegen ist die gesellschaftlich relevante Frage, welche sozialen Gruppen von der Einführung neuer Bildungswege profitiert haben. Ist es gelungen, soziale Ungleichheiten durch die institutionelle Öffnung des Bildungssystems zu reduzieren oder nicht? Und: Greifen in alternativen Bildungswegen die gleichen Muster und Mechanismen sozialer Ungleichheit wie in traditionellen Bildungswegen?

Die gesellschaftliche Relevanz der Vereinbarkeit von Familie und Beruf liegt klar auf der Hand, denke ich: Obschon Frauen heute hoch qualifiziert sind, verlaufen die Erwerbsbiographien von Frauen und Männern nach wie vor sehr unterschiedlich, gerade in Westdeutschland. Gleichzeitig erleben wir in Deutschland seit einigen Jahren einen deutlichen Paradigmenwechsel in der frühkindlichen Betreuung. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft solche Veränderungen und die Auswirkungen solcher Veränderungen verstehen.

WiHo-Redaktion: Was ist Ihnen in der universitären Lehre ganz besonders wichtig?
Sandra Buchholz: Mir ist wichtig – und zwar in allen Phasen der universitären Ausbildung, d.h. in der Bachelor-, Master- und Doktorandenausbildung – Interesse und Freude für das Fach zu wecken, Studierende anzuregen, (kritische) Fragen zu stellen bzw. „Dinge infrage zu stellen“, und ihnen Schritt für Schritt das „Rüstzeug“ mitzugeben, das sie benötigen, um diese Fragen auch beantworten zu können. Außerdem ist es mir immer wichtig, die gesellschaftliche Relevanz der behandelten Themen aufzuzeigen und zu verdeutlichen.

WiHo-Redaktion: Zum Status Quo der WiHo-Forschung in Deutschland: Worin ist sie gut? Was fehlt ihr noch?
Sandra Buchholz: Insgesamt ist die WiHo-Forschung in Deutschland gut aufgestellt, denke ich. Wünschen würde ich mir mehr bzw. noch mehr Längsschnittdaten, die es ermöglichen, Bildungs- und Karriereverläufe in der Wissenschaft zu untersuchen. Auch würde ich mir mehr international vergleichende Studien wünschen. Ich habe in den vergangenen Jahren sehr häufig in internationalen Projekten mitgearbeitet. Es mag auf den ersten Blick etwas widersprüchlich klingen, wenn ich sage: In international vergleichenden Projekten habe ich am meisten über Deutschland gelernt. Aber es ist so. Der „Blick über den Tellerrand“ hat es mir ermöglicht, soziale Strukturen und „Gegebenheiten“ in Deutschland viel besser erkennen und verstehen zu können. Für internationale Vergleiche braucht es aber selbstverständlich immer auch eine gute Datenbasis, nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder.

WiHo-Redaktion: Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Themen der kommenden Jahre in der WiHo-Forschung?
Sandra Buchholz: Da fallen mir unglaublich viele Themen ein. Ich versuche mich deshalb für heute auf ein paar ausgewählte Themen zu beschränken: Ein sehr aktuelles Thema ist meines Erachtens der seit einigen Jahren beobachtbare Anstieg in den Studierendenzahlen. Was ist die Ursache dafür? Was sind die Folgen? Und was bedeutet dieser Anstieg aus einer Ungleichheitsperspektive? Darüber hinaus und über die Grenzen meines eigenen Forschungsfeldes „hinaus gedacht“ sind auch Fragen zur Goveranance-Struktur, zur Leistungsfähigkeit von Hochschulen und zur Förderung eines starken wissenschaftlichen Nachwuchses meines Erachtens sehr relevant für die künftige WiHo-Forschung.