Bildung ist ein Grundbedürfnis

Ines Langemeyer besetzt eine Professur für Lehr-Lernforschung am Karlsruher Institut für Technologie. Ihre Forschung verbindet verschiedene fachliche Zugänge. Im Mittelpunkt stehen die Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher Bildung, ihre gesellschaftliche Bedeutung sowie eine Reflexion grundlegender Begriffe und Methoden der Hochschulbildungsforschung.

WiHo-Redaktion: Wie würden Sie das Profil Ihrer Professur mit Blick auf die Forschung beschreiben?
Ines Langemeyer: Es ist wahrscheinlich eine Besonderheit, dass sich meine Professur nicht einfach einem einzigen Fach und auch nicht einer einzigen Fachkultur zuordnen lässt. Mit dem Gebiet „Lehr-Lernforschung“ ordnen sich unsere Untersuchungen zu Lernmotivation, Selbstregulation und der Entwicklung von Bildungsinteressen einerseits pädagogisch-psychologischer und persönlichkeitspsychologischer Forschung zu. Unser Forschungsinteresse geht aber weit über diese Fächer hinaus. Bedeutsam ist für uns neben der empirischen Forschung der philosophische Blick der Allgemeinen Pädagogik. Wir richten unser Augenmerk auf die Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher Bildung und auf ihre gesellschaftliche Bedeutung. Grundlegende Begriffe der Hochschulbildungsforschung wie „Wissen“, „Beweis“, „Bildung“, „Kompetenz“, „Kultur“, „Interesse“ usw. werden hinterfragt, um sie in unserem Theorierahmen kohärent verwenden zu können. Unser Interesse für die heutige Verwissenschaftlichung der Arbeit und für die Übergänge zwischen Schule-Studium-Beruf vereint zugleich Fragestellungen der Berufspädagogik und der Hochschulforschung.

WiHo-Redaktion: Wie kam es, dass Sie sich mit Wissenschafts- und Hochschulforschung beschäftigt haben? Gab es ein zentrales Ereignis/eine bestimmte Erfahrung?
Ines Langemeyer: Schon während meines Psychologiestudiums in den 1990er Jahren an FU-Berlin war der Umbau der Universität (Kürzungen, Umbau der Gremien, Stärkung von Wettbewerbsstrukturen) für mich Anlass, mich hochschulpolitisch zu engagieren. Wir haben damals viel über die Möglichkeitsbedingungen selbstbestimmten Lernens, kritischer Wissenschaft und über die Bedeutung der Pluralität und der Freiheit der Wissenschaften diskutiert. Als ich in den 2000er Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiedenen Unis arbeitete, spürte ich den kulturellen Bruch der Bologna-Reform deutlich. Man spürte bei den Studierenden immer weniger den Mut zum selbständigen Denken und Handeln. Stattdessen wuchsen die Ängste: Prüfungsangst, Angst vor Fehlern und vor Verantwortung, Angst, den Anschluss an die Gesellschaft zu verpassen, Angst vor Ambivalenz. Der Umbau der Hochschulen und Universitäten war vielerorts ein relativ erfolgreicher Schachzug gegen gesellschaftskritische Denkansätze, welche die Pluralität von Wissenschaften als notwendig erachteten, hin zu einem eher stromlinienförmigen Studier- und Forschungsverhalten. Die aktuellen Zahlen über hohe Studienabbruchquoten und zu psychischen Problemen unter Studierenden wundern mich nicht. Darüber hinaus hat mich die Forschung im Feld der IT-Arbeit und in der Medizin zur Wissenschaftstheorie gebracht. Ludwik Fleck, Gaston Bachelard und Karin Knorr Cetina sind wichtige Quellen meiner Forschung zu Verwissenschaftlichungsprozessen. Die Hoffnung, dass die Bedeutung kritischer Wissenschaften auch an den Hochschulen und Universitäten wiederentdeckt wird, habe ich nicht aufgegeben. Bildung (und nicht Halbbildung) ist ein Grundbedürfnis.

WiHo-Redaktion: Wie würden Sie das Profil Ihrer Professur mit Blick auf die Lehre beschreiben?
Ines Langemeyer: Meine Professur verbindet auch im Lehrprofil Lehr-Lernforschung plus Allgemeine Pädagogik plus Berufspädagogik und ist in den Studiengängen Pädagogik, gymnasiales Lehramt und berufliches Lehramt aktiv. Als eine Professur, die über das Projekt „KIT-Lehre hoch Forschung“ im Qualitätspakt-Lehre ins Leben gerufen wurde, arbeiten wir in unserem Team intensiv an der Weiterentwicklung eines forschungsorientierten Studiums. Wir legen Wert auf verschiedene methodische Zugänge und auf eine wechselseitige Befruchtung praktischer (in der Lehre gewonnener) und theoretischer (d.h. forschungspraktischer) Erfahrung.

WiHo-Redaktion: Zum Status Quo der WiHo-Forschung in Deutschland: Worin ist sie gut? Was fehlt ihr noch?
Ines Langemeyer: Die Einzelwissenschaften mit ihren je unterschiedlichen empirischen Zugängen sind zunächst stark. Die Tendenz ist wie auch in anderen Fächern: Forschungsmethoden werden ausgefeilter, die verarbeiteten Datenmengen größer. Aber Forschungen bleiben meist in den eigenen Fachgrenzen und entwickeln zusammen keine Allgemeine Hochschulbildungswissenschaft, mit der die gewählten Zugänge (Begriffe, Theorien, Methoden) kritisch hinterfragt werden. Grundlegende, bereits erarbeitete Forschungserkenntnisse aus der Vergangenheit werden zum Teil nicht mehr rezipiert und weitergedacht. Letztlich schwächt dies auch die Einzelwissenschaften selbst.

WiHo-Redaktion: Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Themen der kommenden Jahre in der WiHo-Forschung?
Ines Langemeyer: Ich halte das Thema der „Verwissenschaftlichung“ für das zentrale Thema der kommenden Jahre. Es ist insofern von der „Akademisierung“ der Arbeitswelt abzugrenzen, weil es dabei –etwas verkürzt gesprochen- nicht primär auf den akademischen Titel ankommt, sondern auf die wechselseitige Beziehung zwischen der Entwicklung der Wissenschaften und der Entwicklung von wissenschaftlichen Denk- und Handlungsweisen in verschiedenen Feldern unserer Gesellschaft. Insbesondere in der neuen Arbeitswelt sind verwissenschaftlichte Denk- und Handlungsweisen relevant. Dazu gehören bspw.: Sich erschließen zu können, wie die Informationen, auf die wir zurückgreifen, zustande gekommen sind, wie belastbar bestimmte Daten sind, mit welchen Methoden man selbst zu relevanten Erkenntnissen kommt, um sich handlungsfähig zu machen und Probleme lösen zu können, wie man die fachlichen Perspektiven anderer genauer verstehen und mit der eigenen verbinden kann, die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion des eigenen Wissens etc. Schließlich gehören auch intuitive Seiten des Bewusstseins mit zur Verwissenschaftlichung: Es geht um die Fähigkeiten, auf einen reflektierten Erfahrungsschatz spontan rekurrieren, die eigenen Emotionen unverstellt wahrnehmen und sie für kritisches Nachdenken nutzen zu können. Das Thema der Verwissenschaftlichung umschließt so auch klassische Fragen der Bildungsphilosophie: Urteilsfähigkeit, Verantwortung, Entwicklung menschlicher Vernunft und das Ethos, sich in der Gesellschaft für das Gemeinwohl zu engagieren, um sie als vernünftiges, gerechtes Miteinander zu gestalten.