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Von den Naturwissenschaften zur Wissenschafts- und Technikforschung

Prof. Dr. Ruth Müller ist Professorin für Wissenschaft- und Technologiepolitik am Munich Center for Technology in Society an der TU München. Ihre Professur ist ein Joint Appointment mit der TUM School of Life Sciences Weihenstephan. Ihre Forschungsinteressen sind vielfältig und umfassen Interaktionen von Forschungspolitik, institutionellen Werten und akademischen Wissenskulturen; Soziologie und Epistemologie der Lebenswissenschaften ebenso wie Gender und Diversity.

WiHo-Redaktion: Was ist derzeit Ihr aktuell wichtigstes Forschungsprojekt und welchen gesellschaftlichen Bezug hat es?
Ruth Müller: In meiner Forschungsgruppe am MCTS an der TU München verfolgen wir zwei zentrale Linien. Zum einen untersuchen wir Umbrüche in wissenschaftlichen Arbeits- und Wissenskulturen. Diese Veränderungsprozesse verstehen wir als Phänomene an den Schnittstellen von Forschungspolitik, institutionellen Strukturen und Wissensproduktionspraxen. Ein Fokus liegt zum Beispiel darauf, nachzuzeichnen, wie sich gegenwärtige Karriere- und Bewertungsstrukturen auf die Forschungs- und Arbeitspraxen von Jungwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern auswirken und damit die Entwicklung des wissenschaftlichen Systems nachhaltig prägen. Zum anderen erforschen wir in einem zweiten Schwerpunkt das Verhältnis von Lebenswissenschaften, Gesellschaft und Politik. Wie formen lebenswissenschaftliches Wissen und neue Biotechnologien Gesellschaft und Politik, und umgekehrt? Hier erforschen wir gegenwärtig zum Beispiel die wissenschaftlichen, sozialen und politischen Implikationen post-genomischer Forschungsansätze, wie etwa der Epigentik* oder neuer Technologien zur Genom-Editierung wie CRISPR/Cas-9**. In unserer Forschung ist uns neben der Analyse auch immer ein dialogischer Ansatz wichtig, der Sozial- und Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ins Gespräch bringt, um gesellschaftlich verantwortlich mit den Potentialen neuer Wissensformen und Technologien umzugehen.

WiHo-Redaktion: Wie kam es, dass Sie sich mit Wissenschafts- und Hochschulforschung beschäftigen? Wurden Sie durch ein bestimmtes Ereignis oder eine besondere Erfahrung dazu bewogen?
Ruth Müller: Meine Laufbahn hat als Naturwissenschaftlerin begonnen. Ich habe Molekulare Biologie studiert und während meines Studiums auch 5 Jahre in der Brustkrebsforschung gearbeitet. Gleichzeitig habe ich aber schon damals – gerade auch durch die Erfahrung, selbst zu forschen – immer mehr begonnen, mich für Fragen von Wissenschaft und Gesellschaft zu interessieren. Das hat mich ans Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Wien geführt, wo mich Prof. Ulrike Felt damals eingeladen hat, in einem EU-Projekt mit dem Titel “Challenges of Biomedicine” mitzuarbeiten. Thema meiner Diplomarbeit in diesem Projekt waren Wahrnehmungen von und Erfahrungen mit genetischen Tests für Brust- und Eierstockkrebs in Österreich, ein gesundheitspolitisch brisantes Thema. Diese Arbeit war der interdisziplinäre Abschluss meines Studiums der Molekularen Biologie und gleichzeitig mein Einstieg in eine Laufbahn als Wissenschafts- und Technikforscherin.

WiHo-Redaktion: Wie würden Sie das Profil Ihrer Professur mit Blick auf die Lehre beschreiben?
Ruth Müller: Interdisziplinär ausgerichtet! Ziel ist es, Studierende aus verschiedenen Fachrichtungen für die multiplen Interaktionen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft & Politik zu sensibilisieren. Die Schwerpunkte liegen dabei im Bereich der Governance von Wissenschaft, Technologie und Hochschule sowie auf der Rolle der Lebenswissenschaften und der Biomedizin in bzw. für Gesellschaft und Politik.

WiHo-Redaktion: Wo sehen Sie Deutschland in der WiHo-Forschung im internationalen Vergleich? Was könnten wir von welchen Ländern lernen?
Ruth Müller: Generell hat in Deutschland bis jetzt – auch aufgrund der stark disziplinären Organisation akademischer Laufbahnen – die interdisziplinär und international orientierte Wissenschafts- und Technikforschung (Science & Technology Studies; STS) nur beschränkt Halt finden können. Eine Stärkung des Feldes wäre wünschenswert und überaus zeitgemäß. Das würde auch erlauben, die Wissenschafts- und Technologieforschung mit der Hochschulforschung besser zu vernetzen und Synergien der beiden Felder zu stärken.

* Zur Epigenetik: Die Epigenetik ist ein aufstrebendes Forschungsfeld der postgenomischen Lebenswissenschaften, die sich mit der Regulation der Genexpression beschäftigt. Der Begriff „Epi“ – altrgriechisch „auf, um, herum“ – verweist auf chemische Modifikationen, die auf der DNA sitzen und regulieren, welche Gene abgeschrieben werden und wie oft dies geschieht. Sie steuern damit die Übersetzung der genetischen Substanz in die diversen und heterogenen Strukturen des lebenden Körpers. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass epigenetische Markierungen auf Signale aus der Umwelt reagieren können und die Expression unserer Gene beeinflussen – von der embryonalen Entwicklung bis hin zum späteren Lebensverlauf. Der Begriff der Umweltsignale umfasst dabei sowohl das Materielle als auch das Soziale und reicht von Toxinen, Nahrungsmitteln, Bewegung bis hin zu sozialen Erfahrungen und Traumata. Erste Studien zeigen, dass umweltepigenetische Effekte nicht auf das exponierte Individuum beschränkt bleiben, sondern eventuell vererbt werden können. Epigenetische Perspektiven verändern gegenwärtig den wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Blick auf das Verhältnis von Umwelt und Körper, Erfahrung und Erkrankung.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist es überaus spannend zu beobachten, wie Soziales und Biologisches in ein neues Verhältnis gesetzt werden und wie Aspekte des sozialen Lebens Teil biologischer Forschung werden. Damit entstehen neben naturwissenschaftlichen auch gesellschaftswissenschaftliche Fragen, wie etwa nach neuen Körperbildern, Risikobegriffen und neuen Vorstellungen von individueller und kollektiver Verantwortung für die Gesundheit eines epigenetisch gedachten Körpers, die auch neue Herausforderungen an die Gesundheitspolitik stellen.

** Zur Genom-Editierung:
CRISPR/Cas-9 und andere Methoden des sogenannten genome editing erlauben mit überraschender Präzision die genetische Veränderung unterschiedlichster Organismen. Die Anwendungsbereiche reichen von der stark vereinfachten Erzeugung genetisch veränderter Pflanzen bis zur Entwicklung neuer Gentherapien. Diese neuen technologischen Möglichkeiten werfen drängende ethische, politische und soziale Fragen auf. Während Diskussionen über die Potentiale und Gefahren der Gentechnologie nicht neu sind, gewinnen sie ob der sich derzeit rasant verschiebenden Grenzen der technischen Realisierbarkeit an neuer Aktualität. Dadurch entsteht dringender Bedarf an sozialwissenschaftlicher Analyse, sowie an interdisziplinärem und gesellschaftlichem Dialog.