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Fachgebietsspezifische Strukturen wissenschaftlicher Gemeinschaften verstehen

Jochen Gläser ist Professor und Leiter des Fachgebiets „Sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung“ an der Technischen Universität Berlin. Er forscht zum Einfluss von Governance auf die wissenschaftliche Wissensproduktion, zum Zusammenhang von epistemischen Eigenschaften und sozialer Ordnung in wissenschaftlichen Gemeinschaften und zu bibliometrischen Methoden für die empirische Bearbeitung des Mikro-Makro-Problems in der Wissenschaftssoziologie.

WiHo-Redaktion: Wie würden Sie das Profil Ihrer Professur mit Blick auf die Forschung beschreiben?
Jochen Gläser: Ich untersuche den Einfluss der Bedingungen, unter denen Forschung stattfindet, auf die Inhalte und Eigenschaften des produzierten Wissens. Mein Interesse ist es, zu kausalen Erklärungen dieses Zusammenhangs zu gelangen, d.h. die in der Wissensproduktion operierenden Mechanismen zu identifizieren. Den theoretischen Bezugspunkt dieser Untersuchungen bildet eine Theorie mittlerer Reichweite, die den fachgebietsspezifischen Zusammenhang von Forschungspraktiken und sozialen Strukturen wissenschaftlicher Gemeinschaften erklärt. Daraus ergeben sich zwei methodologische Herausforderungen, und zwar die Entwicklung von qualitativen und quantitativen Methoden für die vergleichende Analyse fachgebietsspezifischer Forschungspraktiken und -bedingungen sowie die Entwicklung bibliometrischer Methoden für die Behandlung des der Analyse von wissenschaftlichen Gemeinschaften inhärenten Mikro-Makro-Problems. Aktuelle empirische Interessen meines Fachgebietes sind die Spezifik der Kommunikationspraktiken der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Einfluss von Phasen der Arbeitslosigkeit auf die Karrieren von Forscher*innen, die sich wandelnden Bedingungen für die Unabhängigkeit der Forschung sowie Formen und Effekte von Misserfolg in der Wissenschaft.

WiHo-Redaktion: Was ist derzeit Ihr zentrales Forschungsprojekt und welchen gesellschaftlichen Bezug hat es?
Jochen Gläser: Ich möchte gern die Theorie des Funktionierens wissenschaftlicher Gemeinschaften dahingehend weiterentwickeln, dass sie den Einfluss der differentiellen Inklusion von Forscher*innen in ihre Gemeinschaften auf die Wissensproduktion zu erklären vermag. Die Wissenschaftssoziologie hat in ihrer Anfangsphase Fachgemeinschaften als nahezu unstrukturiert behandelt und sich weder theoretisch noch empirisch für die Dimensionen interessiert, in denen die Inklusion von Forscher*innen in ihre Fachgemeinschaften variiert. Die einzige Ausnahme bildeten Differenzierungen anhand der Beiträge der Mitglieder, die aus der Perspektive der Stratifikation von Fachgemeinschaften betrachtet wurde und einige Arbeiten zu wissenschaftlichen Eliten hervorgebracht hat. Danach ging das Interesse an wissenschaftlichen Gemeinschaften generell verloren, weil die Wissenschaftssoziologie zunächst durch die Soziologie wissenschaftlichen Wissens und später durch die adisziplinären Science and Technology Studies abgelöst wurde. Mittlerweile haben Untersuchungen akademischer Karrieren, Gender Studies, die postkoloniale Wissenschaftsforschung, die Wissenschaftsgeschichte und die Selbstkritik vieler wissenschaftlicher Gemeinschaften an der Marginalisierung ihrer Mitglieder im globalen Süden reiches Material und interessante Fragen zur variierenden Inklusion der Mitglieder in ihre Fachgemeinschaften erbracht. Allerdings werden diese Fragen fast ausschließlich isoliert voneinander als jeweils spezifische Ungerechtigkeiten diskutiert. Ich glaube, dass eine theoretische Perspektive auf die differentielle funktionale Inklusion und deren Folgen für die Wissensproduktion die verschiedenen empirischen Beobachtungen theoretisch integrieren und zu einer wesentlichen Vertiefung der Theorie wissenschaftlicher Gemeinschaften beitragen kann.

WiHo-Redaktion: Wie würden Sie das Profil Ihrer Professur mit Blick auf die Lehre beschreiben?
Jochen Gläser: Mein Schwerpunkt liegt hier auf der Wissenschaftssoziologie, und die wichtigste Randbedingung für meine Lehre ist ihre Einbindung in interdisziplinäre Studiengänge, die wir gemeinsam mit der Philosophie, Wissenschafts- und Technikgeschichte sowie Literaturwissenschaft gestalten. Ich versuche dabei, Wissenschaftssoziologie als eine Soziologie wissenschaftlicher Arbeitsprozesse zu vermitteln und die Studierenden zu befähigen, die Funktionsweise von Forschung auf der Mikroebene der Forscher*innen und Forschungsgruppen sowie auf der Ebene von Fachgemeinschaften zu analysieren. Das schließt historische Bezüge (z.B. den historischen Wandel von Karrieremustern) ebenso ein wie ganz aktuelle (z.B. die Quantifizierung und Digitalisierung von Wissenschaft).

WiHo-Redaktion: Wie generieren Sie neue Seminarinhalte/Vorlesungsthemen?
Jochen Gläser: Am Ende doch recht stark aus der Forschung heraus. Neben Grundlagenveranstaltungen zur Wissenschaftssoziologie geht es dann vor allem darum, die der Forschung unterliegenden allgemeineren theoretischen Aspekte zu vermitteln und Bezüge zu den anderen Disziplinen des Studienganges zu finden. Ein neues Thema ist für mich dann geeignet, wenn es einen Zusammenhang zu meiner aktuellen Forschung aufweist, grundlegende Aspekte des Funktionierens von Wissenschaft zu verdeutlichen gestattet, Bezüge zur Wissenschaftsgeschichte oder Philosophie aufweist und die Diversität fachgebietsspezifischer Forschungspraktiken verdeutlicht.

WiHo-Redaktion: Zum Status Quo der WiHo-Forschung in Deutschland: Worin ist sie gut? Was fehlt ihr noch?
Jochen Gläser: Da ich innerhalb der WiHo-Forschung vor allem die Wissenschaftsforschung und die dafür relevanten Themen der Hochschulforschung wahrnehme, möchte ich keine Aussagen über die WiHo-Forschung insgesamt machen. An dem, was ich kenne, freuen mich der Theoriebezug, die Bemühungen um eine Integration von Wissenschafts- und Hochschulforschung und die allmähliche Integration bibliometrischer Methoden als Instrumente der Wissenschafts- und Hochschulforschung (und nicht der Evaluation von Forschung). Für die Wissenschaftsforschung möchte ich außerdem die zunehmende Untersuchung von Fächern hervorheben, die traditionell nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Wissenschaftsforschung standen, wie der Ingenieurwissenschaften am MCTS München und der Soziologie durch ein DFG-Netzwerk.

WiHo-Redaktion: Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Themen der kommenden Jahre in der WiHo-Forschung?
Jochen Gläser: Das ist jetzt mehr ein Wunschzettel als eine Prognose: In der Organisationssoziologie ist vor zwei Jahrzehnten eine wichtige Forderung formuliert worden, nämlich „bringing work back in“ (Barley und Kunda 2001). Diese Forderung war durch die Beobachtung motiviert, dass die Analyse vieler organisationaler Prozesse unvollständig bleibt, wenn die Spezifik der Leistungsprozesse im Allgemeinen und der Arbeitsinhalte im Besonderen ausgeblendet wird. Sie für die Organisation Universität zu erfüllen heißt, die Analyse der universitären Leistungsprozesse Forschung und Lehre in die Analyse intrauniversitärer Governance zu integrieren. Da Governance den Zweck hat, diese Leistungsprozesse zu beeinflussen, ist ihre Analyse ohne das Verständnis der durch die Inhalte von Forschung und Lehre gesetzten Bedingungen für Governance und die durch Governance verursachten inhaltlichen Veränderungen von Forschung und Lehre unvollständig. Dieser Aspekt der vielbeschworenen Integration von Wissenschafts- und Hochschulforschung scheint mir am aussichtsreichsten. Er findet aber im Moment noch nicht genug Beachtung.

Ein zweites Wunschthema ist die von mir bereits erwähnte stärkere Nutzung bibliometrischer Methoden als Forschungsmethoden. Die Bibliometrie wird meist mit Forschungsevaluation assoziiert. Sie bietet aber zwei interessante Möglichkeiten für die Wissenschafts- und Hochschulforschung, die bislang nicht ausreichend genutzt werden. Erstens ermöglicht sie einen empirischen Zugang zu (fachgebietsspezifischen) Strukturen des produzierten Wissens, den wir ja brauchen, wenn wir uns für Veränderungen von Forschungsinhalten interessieren. Zweitens bietet sie einen Zugang zum Studium von national und international verteilten Fachgemeinschaften, den weder qualitative noch survey-basierte Methoden erreichen. Wenn es uns gelingt, geeignete bibliometrische Methoden zu entwickeln und mit der qualitativen Wissenschaftsforschung zu integrieren, kann das die Wissenschafts- und Hochschulforschung erheblich voranbringen.