Globalisierte Wissensgesellschaften
Eva Barlösius leitet das Leibniz Center for Science and Society (LCSS) an der Leibniz Universität Hannover und hat dort seit 2007 eine Professur für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse inne. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Wissenschaftsforschung; hier beschäftigt sie sich unter anderem mit wissenschaftlichen Infrastrukturen, Konzepten wissenschaftlicher Originalität, data sharing, Ressortforschung und Wissenschaftssprache.
WiHo-Redaktion: Was würden Sie als Mission ihres Zentrums ansehen?
Eva Barlösius: Das LCSS integriert Wissenschafts- und Hochschulforschung, theoretische und empirische Forschung und interdisziplinäre Perspektiven, insbesondere die der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften. Die Brückenprojekte am LCSS entsprechen genau dieser Forschungsmission: Dort werden interdisziplinäre Projekte durchgeführt, die sowohl empirische Studien umfassen als auch einen Beitrag zur Theorieentwicklung leisten und die zudem Themen der Wissenschafts- und Hochschulforschung miteinander verbinden. Das LCSS forscht in enger Kooperation mit dem DZHW, bildet mit ihm zusammen in der Graduiertenschule Wissenschaft und Gesellschaft Doktorandinnen und Doktoranden aus. Auch im Masterstudiengang Wissenschaft und Gesellschaft arbeiten das LCSS und das DZHW zusammen.
WiHo-Redaktion: Wie soll das Profil Ihrer Einrichtung in 10 Jahren aussehen bzw. welche Herausforderungen sehen Sie für das Zentrum in den nächsten Jahren?
Eva Barlösius: Bislang zehren die Wissenschafts- und Hochschulforschung ganz überwiegend von theoretischen und methodologischen Grundannahmen, die nicht spezifisch für Wissenschaft und Hochschule entwickelt wurden. In den letzten Jahrzehnten wurden Wissenschaft und Hochschule zu axialen Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung: der globalisierten Wissensgesellschaften. Die größte Herausforderung sieht das LCSS deshalb darin, eine dieser gewachsenen Bedeutung angemessene theoretische Konzeption zu entwickeln und diese empirisch zu fundieren. Für die nächsten Jahre haben wir uns vorgenommen, diese Herausforderung anzugehen.
WiHo-Redaktion: Zum Status quo der WiHo-Forschung in Deutschland: Worin ist sie gut? Was fehlt ihr noch?
Eva Barlösius: Wissenschafts- und Hochschulforschung haben sich in den letzten Jahren vermehrt wissenschaftspolitisch zu Wort gemeldet, um den gestiegenen Bedarf an systematischer und institutionell gesicherter Forschung zu Wissenschaft und Hochschule anzumelden. Aus meiner Sicht war diese Strategie in einigen Fällen sehr erfolgreich, nicht zuletzt die Internetseite WiHo belegt dies. Allerdings arbeiten nur an wenigen Standorten Wissenschafts- und Hochschulforschung zusammen, obgleich ohne die Hochschulexpansion insbesondere die immens gestiegene Studierendenquote, die Ausweitung des Wissenschaftssystems und die rasant anwachsende wissenschaftliche Fundierung vieler gesellschaftlicher Bereiche nicht möglich gewesen wären. Und dies gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Eine weitere Schwäche besteht darin, dass Hochschul- und Wissenschaftsforschung zwar immer wieder als interdisziplinäre Forschungsfelder bestimmt werden, tatsächlich aber nur sehr wenige Disziplinen auf diesen Feldern tätig sind und diese noch seltener zusammen forschen. Weiterhin ist die deutsche Hochschul- und Wissenschaftsforschung international noch immer zu wenig sichtbar. Und schließlich, was typisch für die deutsche Forschungslandschaft insgesamt ist, gilt auch hier: eine Zersplitterung in kleine Standorte, was größere, auf längere Zeit angelegte Forschungslinien erschwert.
WiHo-Redaktion: Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Themen der kommenden Jahre in der WiHo-Forschung?
Eva Barlösius: Aus unserer Sicht sind weite Teile der Wissenschafts-, aber speziell auch der Hochschulforschung noch der Zeit vor der immensen weltweiten Expansion der letzten Jahrzehnte verpflichtet. Das erste zentrale Thema ist deshalb, systematisch darüber zu forschen, welche gesellschaftlichen Positionen Wissenschaft und Hochschule in globalisierten Wissensgesellschaften haben. Das nächste Thema schließt unmittelbar daran an: Wie sind Wissenschafts- und Hochschulsysteme in globalisierten Wissensgesellschaften einzurichten? Daraus ergibt sich die Frage der praktischen Umsetzung. Und schließlich wäre zu untersuchen, welche gesellschaftlichen Rückwirkungen die veränderten Wissenschafts- und Hochschulsysteme erzeugen.
WiHo-Redaktion: Wenn Sie bei den nächsten Haushaltsverhandlungen einen Wunsch frei hätten, wofür würden Sie diesen nutzen?
Eva Barlösius: Aus der Wissenschaftsforschung wissen wir, dass Forschungsperspektiven erst dann etabliert sind, wenn sie in dauerhafte Strukturen und Institutionen überführt sind, die unabhängig vom Ausgang der nächsten Haushaltsverhandlungen sind. Am LCSS haben wir über die LCSS-Professuren, über die feste Mitgliedschaft von weiteren Professorinnen und Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowieeine garantierte Grundausstattung schon einige dauerhafte Strukturen etabliert. In den Haushaltsverhandlungen würde ich mich deshalb für eine Verstetigung der finanziellen Ausstattung der Graduiertenschule Wissenschaft und Gesellschaft sowie der interdisziplinären Brückenprojekte einsetzen.
WiHo-Redaktion: Gegenwärtig ist ein starker Trend zur Aufnahme eines Studiums zu verzeichnen. Auch die Anzahl der Studiengänge ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Können Sie diese Entwicklung als Wissenschafts- und Hochschulforscherin erklären?
Eva Barlösius: Es handelt sich um einen weltweiten Trend, der international oftmals unter den Schlagworten „massification of higher education“ und „postsecondary education anarchy“ thematisiert wird. Diese Begriffe verdeutlichen anschaulich, mit welchen Vorbehalten die Hochschulforschung diesen Entwicklungen entgegentritt. Im Wesentlichen konkurrieren zwei Erklärungen dieses Trends miteinander: eine eher funktionale Erklärung, wonach die Ursache für die Expansion der Hochschulbildung in veränderten Anforderungen des Erwerbssystems gesehen wird – nach dem Motto: Eine globalisierte Wissenschaftsgesellschaft benötigt mehr Akademikerinnen und Akademiker. In der zweiten Erklärung dominieren eher sozialstrukturelle Argumente. Hiernach liegt der Grund für die gestiegene Beteiligung an der Hochschulbildung in der größer gewordenen sozialen Konkurrenz um begehrte berufliche und soziale Positionen, insbesondere innerhalb der Mittelschichten. Leider findet sich kaum die Erklärung, dass sich der Drang nach und die Lust auf Bildung vergrößert hätten. Schade, nicht wahr?